Kapitel
Einleitung
Name des Buches
Im Hebräischen heißt das Buch Ekah, weil es mit diesem Wort beginnt (Klgl 1,1; 2,1; 4,1). Ekah bedeutet „Wie“ (eigentlich „Ach, wie“). Die deutsche Bezeichnung Klagelieder weist sowohl auf den Inhalt des Buches hin (klagen) als auch auf die Form, in der es geschieht (in Liedern). Das Buch ist die dritte der fünf „Schriftrollen“, oder Megilloth, die an bestimmten Tagen in der Synagoge gelesen werden. Die anderen sind, in der Reihenfolge, in der sie darin vorkommen: Das Lied der Lieder, Ruth, Prediger und Esther. Das Buch der Klagelieder wird am neunten Tag des fünften Monats, des Monats Ab, gelesen, dem Tag der Trauer über die beiden Zerstörungen des Tempels und den gescheiterten Bar-Kochba-Aufstand (135 n. Chr.).
Autor
Sowohl die jüdische als auch die christliche Tradition haben angenommen, dass Jeremia der Autor des Buches ist. Offensichtlich wurden die Klagelieder von einem Augenzeugen der Zerstörung der Stadt geschrieben, von jemandem, der sich stark mit dem Schicksal der Stadt und des Volkes identifizierte. Wer sonst könnte das sein als Jeremia? Es ist anzunehmen, dass er diese Klagelieder im oder in der Nähe des zerstörten Jerusalems und unter dem unmittelbaren Eindruck der Tragödie verfasst hat.
Form
Die fünf Kapitel, die das Buch enthält, sind eigentlich fünf separate Gedichte. Die Klagelieder 1, 2, 4 und 5 haben jeweils zweiundzwanzig Verse. Der Inhalt von Klagelieder 1, 2 und 4 ist alphabetisch nach den zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets geordnet. Klagelieder 3 hat sechsundsechzig Verse, was dreimal zweiundzwanzig ist. Auch dieses Kapitel ist alphabetisch geordnet. Die ersten drei Verse beginnen jeweils mit dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets, die nächsten drei beginnen mit dem zweiten Buchstaben und so weiter. Klagelieder 5 hat ebenfalls zweiundzwanzig Verse, ist aber nicht alphabetisch geordnet.
Mit Ausnahme von zwei Versen (Klgl 1,7; Klgl 2,19) enthalten die ersten drei Gedichte, Klagelieder 1–3, drei Gedichtzeilen pro Strophe. Klagelieder 4 enthält pro Strophe zwei Gedichtzeilen und Klagelieder 5 nur eine.
Der Heilige Geist verwendet nicht ohne Grund die alphabetische Reihenfolge, sondern es liegt ein tiefer Gedanke darin. Verschiedene Schriftausleger haben gesagt: So wie diese Gedichte alle Buchstaben des Alphabets, also gewissermaßen die gesamte menschliche Sprache umfassen, so drückt das Buch das gesamte menschliche Leid in seinem vollen Umfang aus, von A bis Z. Keine Facette wird ausgelassen. Jedes Detail der menschlichen Tragödie wird genau beschrieben und ausgedrückt.
Eine übliche Reaktion auf Leid, das jemandem widerfährt, ist, ihn aufzumuntern und schnell über etwas anderes zu reden. Das Buch der Klagelieder ist in einer Struktur geschrieben, die eine solche Leichtfertigkeit nicht zulässt.
Die Verwendung all dieser Buchstaben zeigt im Allgemeinen die Wichtigkeit jedes einzelnen Buchstabens und Wortes. Der Herr Jesus ist das Wort Gottes. Er nennt sich selbst „das Alpha und das Omega“, der erste und letzte Buchstabe des griechischen Alphabets (Off 1,8; 21,6; 22,13). Er ist die vollkommene Offenbarung Gottes. Auch seine Leiden sind in diesem Buch zu sehen.
Thema
Das Thema des Buches ist Jeremias Klage über die Katastrophen, die der HERR über das sündige Juda gebracht hat, und die beklagenswerte Zerstörung der Stadt Jerusalem und des Tempels durch die Babylonier im Jahr 587 v. Chr. Die Stadt, die ein Beispiel und ein Wegweiser für alle Nationen hätte sein sollen, wurde stattdessen zu einem Hohn und einem Gegenstand des Spottes. Das Buch Jeremia enthält Warnungen vor den Gerichten, die über die Stadt kommen würden, wenn sie im Ungehorsam verharrte. Das Buch der Klagelieder enthält tiefe Ausdrücke der Trauer über das Gericht, das über Jerusalem gekommen ist.
Eingebettet in die Klage des Propheten ist ein dringender Appell an das schwer gezüchtigte Volk. Dieser Aufruf beinhaltet, dass sie anerkennen, dass Gottes Gerichte über sie gerecht sind. Dieser Aufruf bedeutet auch, dass sie sich mit Reue und Bekenntnis wieder der Barmherzigkeit Gottes anvertrauen, der sein Volk letztlich nicht im Stich lassen wird. Gleichzeitig sieht der Prophet, wie schlecht die Gesinnung und das Verhalten derer war, die die Stadt und den Tempel zerstört haben. Deshalb bittet er, dass das Gericht auch auf sie herabkommt.
Die Klage Jeremias ist so intensiv, dass das Buch der Klagelieder eines der beiden tragischsten Bücher der Bibel ist. Das andere Buch ist das Buch Hiob. Auch dieses Buch hat das Leiden als Hauptthema. Der Unterschied ist, dass das Buch der Klagelieder das Leiden eines ganzen Volkes beschreibt, während das Buch Hiob das Leiden einer einzelnen Person beschreibt.
Beide Bücher befassen sich mit dem Problem der Gerechtigkeit Gottes auf der einen und seiner Liebe auf der anderen Seite, der Souveränität Gottes auf der einen und der Verantwortung des Menschen auf der anderen Seite. Gott ist souverän, das heißt, Er steht über allen und allem und regiert alles. Alles ist Ihm unterworfen und von Ihm abhängig. Er selbst ist von niemandem abhängig (Röm 11,33–36). Gleichzeitig ist der Mensch selbst verantwortlich für die Entscheidungen, die er trifft, die Taten, die er tut, und die Worte, die er spricht. Das klingt wie ein Widerspruch und gehört doch zusammen. Es geht um zwei gegensätzliche Dinge, die beide vollkommen wahr sind, aber für uns schwierig miteinander zu vereinbaren sind.
Übrigens geht es in diesem Buch mehr um den HERRN als um den Menschen. Wir sehen hier vor allem seinen Schmerz und seinen Kummer darüber, dass Er wegen der Untreue seines Volkes so handeln musste. Jeremia sieht die Zerstörung Jerusalems und das Gericht über die Einwohner Judäas mehr als ein göttliches Gericht und nicht so sehr als das Ergebnis der Invasion der Babylonier.
Dies hören wir in den Worten: „Merkt ihr es nicht, alle, die ihr des Weges zieht? Schaut und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz, der mir angetan wurde, mir, die der HERR betrübt hat am Tag seiner Zornglut“ (Klgl 1,12).
Dies steht im Einklang mit dem, was der Herr selbst sagt: „Und ich selbst werde gegen euch kämpfen mit ausgestreckter Hand und mit starkem Arm und mit Zorn und mit Grimm und mit großer Wut“ (Jer 21,5).
Zweck
Die Juden lasen das Buch der Klagelieder während des jährlichen Fastens zum Gedenken an die Zerstörung Jerusalems (Sach 7,3.5; 8,19). Der Zweck scheint zu sein, sich daran zu erinnern, dass Gott seinem Bund treu ist, wenn Er Gerichte über sein Volk bringt, wenn sein Volk eben diesem Bund untreu ist (5Mo 28,45–68). Das Buch lehrt spätere Generationen die Wichtigkeit der Treue gegenüber diesem Bund und auch, dass Gott dem Bund treu ist. Das Buch enthält die ernste Lektion, dass die Sünde, entgegen aller Verlockungen, eine ungeheure Last an Leid, Elend, Verwüstung, Dürre und Schmerz mit sich bringt.
Auch für uns Christen gibt es eine Botschaft in diesem Buch. Das Buch hält auch uns die Folgen der Sünde vor Augen: dass Sünde unser Leben zerstört und nur Elend, Kummer und Schmerz verursacht. In Zeiten persönlicher, nationaler und internationaler Krisen ist das Buch ein Aufruf zur Umkehr und zum Bekenntnis der Sünden, um uns Gott, der Liebe ist, neu hinzugeben. Obwohl diese Liebe immer da ist und zu den Menschen ausgeht, muss ein heiliger und gerechter Gott unbußfertige Sünder immer richten, denn Gott ist auch Licht.
Praktische Bedeutung
Das Buch der Klagelieder hat eine praktische Bedeutung für uns.
1. Zusammen mit dem Buch Hiob gibt das Buch der Klagelieder innerhalb des inspirierten Wortes Gottes dem heftigsten menschlichen Kummer einen Platz. Das ist von unmittelbarem praktischen Wert für jeden Gläubigen heute, der diese Bücher der Bibel in seinem Kummer liest. Er entdeckt dann, dass er nicht der erste ist, der durch tiefste Dunkelheit geht, bevor das Licht wieder durchbricht. So erfährt der Gläubige, dass Gott den Schmerz und das Leid der Seinen zur Kenntnis nimmt, ja, dass Er ihre Tränen in seinem Buch aufzeichnet (Ps 56,9). Die detaillierte Beschreibung des Elends in diesem Buch ist ein bemerkenswerter Beweis dafür, dass Gott das Elend der Seinen sieht und wahrnimmt.
Wie bereits oben unter der Überschrift Form erwähnt, sind vier der fünf Gedichte in alphabetischer Reihenfolge geschrieben, wobei alle Buchstaben des Alphabets verwendet werden. Das bedeutet, dass es der ganzen menschlichen Sprache bedarf, um dem Elend Ausdruck zu geben, in dem der Gläubige sich befinden kann. Auch in anderen Fällen werden manchmal alle Buchstaben verwendet, wie in einigen Psalmen. Dort geht es dann darum, der Anbetung Ausdruck zu verleihen.
All dies geschieht unter der Führung des Geistes Gottes. Dass Gott sich auf diese Weise ausgedrückt hat, zeigt, dass Er, der unbegrenzt ist, sich in begrenzter menschlicher Sprache ausdrückt. Sprache hat ihre Grenzen. Die hebräische Sprache ist auf zweiundzwanzig Buchstaben begrenzt.
2. Dieses Buch zeigt – anders als das Buch Hiob –, wie die Guten mit den Bösen leiden müssen. Das Gericht über Juda und Jerusalem ist ein nationales Gericht, es betrifft die ganze Nation. Auch die Gerechten müssen die Folgen dieses Gerichts tragen, obwohl sie keinen Anteil an den entsetzlichen Sünden Judas haben. Wie oben erwähnt, beschreibt das Buch Hiob das Leiden eines einzelnen Gerechten; das Buch der Klagelieder beschreibt das Leiden eines ganzen Volkes.
Prophetische Bedeutung
Das Buch der Klagelieder hat auch eine prophetische Bedeutung.
1. Prophetisch gesehen beziehen sich sowohl das Buch Hiob als auch das Buch der Klagelieder auf das Leiden des Überrestes Israels in der Endzeit. Bei der ersten Belagerung Jerusalems in der Zukunft wird der König des Nordens die Stadt einnehmen und weitgehend zerstören (Sach 14,2). Diese Zerstörung wird wieder die Folge der Sünden Judas sein. Gleichzeitig gibt es einen gerechten Überrest in der Stadt, der zusammen mit den Bösen leiden wird (Zeph 3,12; Sach 12,8). Prophetisch gesehen wird sich dieser Überrest mit den Klagen, die in diesem Buch zum Ausdruck gebracht werden, eins machen können, indem sie einerseits die Schuld des ganzen Volkes als ihre Schuld bekennen (vgl. Dan 9,4–19) und andererseits Gott wegen ihrer eigenen Unschuld anflehen.
2. Die leidvolle Frage Hiobs in seinem Buch und der Gerechten im Buch der Klagelieder, warum sie unschuldig leiden müssen, wird von Gott tatsächlich nicht beantwortet. Der begrenzte Mensch kann die Wege Gottes in ihrer Tiefe nicht ergründen. Gottes Liebe und Gerechtigkeit sind in seinen Worten und Taten deutlich genug zu erkennen. Doch es gibt auch Augenblicke in unserem Leben, in denen Gottes Handeln im Widerspruch zu stehen scheint mit seiner Liebe und Gerechtigkeit.
Wie so oft im Buch der Psalmen, macht sich der Geist Christi in diesem Buch eins mit dem treuen Überrest Israels. Wo immer die Gerechten ihre Klage zum Ausdruck bringen, hören wir gleichsam die Klage des einen Gerechten, des Herrn Jesus, immer mitklingen.
Am deutlichsten sehen wir Christus in diesem Buch da vorgeschattet, wo der Prophet als Gerechter inmitten eines ungerechten Volkes über seine eigenen Gefühle und Erfahrungen spricht. Was in Jeremia gewirkt wird, geschieht durch den Geist Gottes, auch wenn wir Unzulänglichkeiten erkennen in der Äußerung seiner Gefühle und Erfahrungen. Das ist bei Christus nicht der Fall. In Klagelieder 3 sehen wir Jeremia in seinen Äußerungen als ein Bild von Christus, wenn er davon spricht, was das Volk ihm angetan hat (Klgl 3,14), und wenn er davon spricht, was der HERR ihm angetan hat (Klgl 3,1–13.15–18).
Jeremia muss mit den Bösen leiden. Der Grimm des HERRN (vgl. Klgl 3,1) kommt auch auf ihn, den Unschuldigen, herab. Das weist eindeutig auf Christus, den Gerechten, hin, der unschuldig von der Seite seines Volkes leidet. Bei Ihm geht es noch viel weiter. Er leidet nicht nur mit dem Volk, besonders mit dem zukünftigen Überrest, sondern Er leidet darüber hinaus allein und stellvertretend für das Volk.
Dieses stellvertretende Leiden Christi sehen wir ausschließlich in den drei Stunden der Finsternis am Kreuz. Dort, und nur dort, wurde Er von Gott verlassen und von Ihm zur Sünde gemacht. Dort erlitt Er das Gericht für die Sünden aller, die glauben, und dort starb Er den Versöhnungstod für sie.
Das Buch ist ein Ausdruck von Klage, Reue und Flehen. Die Klage erfolgt über das Elend; das Bewusstsein über die Ursache des Elends führt zur Buße vor Gott; darauf folgt ein Flehen um Wiederherstellung für sich selbst und um Gericht über die Feinde.
Einteilung des Buches
Wie bereits erwähnt, besteht das Buch aus fünf Gedichten.
1. Erstes Gedicht (Klagelieder 1): Jerusalem ist verwüstet und verödet. Der Prophet beschreibt anschaulich den erbärmlichen Zustand der Stadt, die bitterlich weint wie eine beraubte Witwe. Er erinnert sich an ihre frühere Herrlichkeit und beklagt ihren Untergang. In Klagelieder 1,11b–22 (außer Klgl 1,17) ist das „Ich“ die Stadt selbst. Sie ruft alle auf, sie zu bemitleiden (Klgl 1,12), und fleht zu Gott um Rache an ihren Feinden (Klgl 1,22).
2. Zweites Gedicht (Klagelieder 2): Dieses Gedicht beschreibt die Gründe für Gottes Zorn über die Stadt und den daraus resultierenden Untergang (Klgl 2,1–12). Der Prophet bezeugt, dass Buße und Umkehr ihre einzige Hoffnung sind (Klgl 2,13–19). Die Stadt antwortet darauf (Klgl 2,20–22).
3. Drittes Gedicht (Klagelieder 3): Hier hören wir die Klage des ganzen Volkes durch den Mund des Gerechten in diesem Volk – Jeremia selbst.
a. Er klagt über die Tragödie, die ihn getroffen hat (Klgl 3,1–20);
b. Er spricht von seinem Vertrauen auf Gott, wenn er sich an dessen frühere Barmherzigkeiten erinnert (Klgl 3,21–39);
c. Er ruft das Volk auf, sich selbst zu prüfen und zum HERRN umzukehren (Klgl 3,40–54).
d. Nachdem das Volk erkannt hat, dass Gott ihr Schreien gehört hat, flehen sie zu Ihm, Er möge Rache an ihren Feinden üben (Klgl 3,55–66).
4. Viertes Gedicht (Klagelieder 4): Hier wird die frühere Herrlichkeit Zions mit ihrem gegenwärtigen Elend verglichen.
a. Die Schrecken der Belagerung werden beschrieben (Klgl 4,1–11),
b. Die Sünden des Volkes, vor allem die ihrer Priester und Propheten, werden beklagt (Klgl 4,12–16).
c. Alle ihre Hoffnungen sind zunichte geworden (Klgl 4,17–20).
d. Es wird aber auch verkündet, dass die Sünde Zions hiermit getilgt ist und dass die Schadenfreude Edoms auf ihr eigenes Haupt zurückkommen wird (Klgl 4,21.22).
5. Fünftes Gedicht (Klagelieder 5): Das reumütige Volk fleht zum HERRN, ihres Elends zu gedenken (Klgl 5,1–18) und übergibt sich seiner Gnade, um wiederhergestellt zu werden (Klgl 5,19–22). Das gesamte Kapitel ist ein Gebet und hat darum keine alphabetische Reihenfolge. Im Gebet schüttet sich ein Herz vor dem HERRN aus, ohne sich Rechenschaft abzulegen über eine bestimmte Wortwahl oder Reihenfolge.